Abb. 2 - Mitseinen kräftigen Krallen fixiert der Tannen- häher ein Nüsschen und pickt punktgenau auf die harte Schale, bis diese geknackt ist. Foto: Markus Brupbacher
Abb. 3 - Der Tannenhäher hat die Schuppen eines reifen Arvenzapfens weggemeisselt und die Arvenkerne herausgepickt. Foto: Markus Brupbacher
Abb. 4 - Aus dem zaghaften Keimling wird eine stattliche Arve, die über tausend Jahre alt werden kann. Foto: Markus Brupbacher
Es ist tiefster Winter im Engadin. Mit stoischer Gelassenheit, so scheint es, tragen die stolzen Arven – auch Zirbelkiefern genannt – die Schneelast, seit Jahrhunderten. Die Arve gilt als Königin der Alpen. Sie erträgt Temperaturen bis -45 °C und ist damit die frosthärteste Baumart der Alpen. Schon bei -5 °C baut sie die fürs Wachstum notwendigen Kohlenstoffverbindungen auf. Hier im Engadin erreichen Arven bisweilen ein Alter von über 1000 Jahren und gedeihen in Höhen bis 2400 m ü.M.
Als Pionierbäume an der oberen Waldgrenze sind sie die ersten, auf die Lawinen, Murgänge und Steinschlag treffen. Oft führen Blitz oder Schneelast zu Wipfelbruch, wodurch erst die unverkennbaren, mehrwipfeligen Baumkronen entstehen. Mindestens 40, manchmal 90 Jahre dauert es, bis Arven die ersten Zapfen tragen, die erst im dritten Jahr reif vom Baum fallen. Nur alle fünf bis sieben Jahre tragen sie reichlich Zapfen, in einem sogenannten Samen- oder Mastjahr. In solchen Jahren "überschwemmen" die Arven den Wald mit Nüsschen, weit mehr als die verschiedenen Tiere vertilgen oder horten können, die die Nüsschen fressen.
Saurer Nadelboden als Keimbett
Die Arve wächst zwar langsam, doch schlägt sie ihre lichthungrige und schneller wachsende Hauptkonkurrentin, die Lärche, mit der Zeit aus dem Feld. Die abgefallenen Lärchennadeln bilden über die Jahre ein dickes Polster nicht verrotteter Nadeln. Auf diesem sauren Rohhumus keimt kaum noch ein Samen, auch nicht von der Lärche. Das ist die Stunde der Arve, deren nährstoffreiche Nüsschen auf dem sauren, nährstoffarmen Nadelboden keimen und in der darunter liegenden Erde wurzeln. Auf diese Weise sickern allmählich Arven in den reinen Lärchenwald ein und gedeihen langsam, aber stetig im Schatten der Lärchen. Nach ein paar hundert Jahren wird so aus dem Lärchen-Arvenwald ein reiner Arvenwald.
Abb. 5 - Steinschlag, Lawinen, Murgänge, Sturm, Blitze und eisige Kälte prägen die obere Baumgrenze wie hier bei Muottas da Schlarigna oberhalb von Pontresina GR. Die Basis für den Erfolg der Arve auf dieser Höhe legt der Tannenhäher. Er versteckt ihre Nüsschen als Wintervorrat. Einige findet er jedoch nicht wieder. Diese keimen aus und neue Arven entstehen. Foto: Markus Brupbacher
Abb. 6 - Diese vierstämmige Arve am Fuss der Churfirsten wächst auf einem Felsblock. Hat ein Tannenhäher sie einst dort "gepflanzt"?
Die Arve schwindet
Lange Zeit stand die Nutzung der Arve in keinem nachhaltigen Verhältnis zu ihrem äusserst langsamen Wachstum. So waren um 1900 in den Alpen viele der jahrhundertealten Arvenbestände verschwunden oder stark dezimiert. Ausgedehnte Rodungen, um Weideland und Brennholz zu gewinnen, sowie die intensive Nutzung des wohlduftenden Arvenholzes für Täferungen, Milchgeschirr oder Schnitzereien setzten den Arven arg zu. Aber auch die Beschädigung der Bäume beim Sammeln der Arvenzapfen oder Verbiss durch im Wald weidende Ziegen trugen ihren Teil zur Zerstörung bei.
In der Folge starteten umfangreiche Aufforstungsprogramme. Der Bevölkerung wurde das beliebte Sammeln von Arvennüsschen weitgehend verboten. So sammelten bezahlte Arbeiter unter strenger Aufsicht der Forstämter die Nüsschen als Saatgut für Baumschulen ein. Die Bevölkerung konnte nur etwaige Überschüsse sackweise kaufen.
Sündenbock gefunden
Bald war ein (vermeintlicher) Hauptschuldiger der schwindenden Arvenbestände gefunden. Es handelte sich um einen hochintelligenten Rabenvogel mit einem braunschwarzen, weiss gesprenkelten Federkleid und kräftigem Schnabel: den Tannenhäher. Der "gefährlichste Feind" und "grösste Arvenschädling", so nennt Martin Rikli im Jahre 1909 den Tannenhäher in seinem Buch “Die Arve in der Schweiz“. Domenic Feuerstein schimpft 1939 in "Der Arvenwald von Tamangur“ den Vogel gar einen schlimmen Räuber, unmöglichen Gesellen oder elendes Pack. Eine regierungsrätliche Verordnung verlangte damals, den Tannenhäher im Kanton Graubünden zu schiessen. Die Abschussprämie von 1 Franken pro Vogel wurde hälftig aus der Bundeskasse vergütet.
Die "gefrässigen Gesellen" wurden weniger, und man hoffte ernsthaft auf Erholung der Arvenbestände. Erst 1961 wurde die Jagd eingestellt, als sensationelle wissenschaftliche Studien den fatalen Irrtum aufdeckten. Sie zeigten: Der Tannenhäher schädigt die Arve nicht – im Gegenteil. Er ist es, der den Fortbestand der Arve durch Verjüngung und Verbreitung überhaupt erst sichert.
So plötzlich kam diese Erkenntnis allerdings auch nicht, denn bereits Rikli und Feuerstein würdigten den Tannenhäher, zögerlich zwar, aber aller Verteufelung zum Trotz. So anerkannte Rikli 1909, es sei "nicht in Abrede zu stellen, dass (...) der Tannenhäher (...) für die Verbreitung der Arve ganz bedeutend beiträgt", nämlich durch "Ansammeln von Vorräten, die später nicht mehr aufgefunden werden".
Diese sogenannte Versteckausbreitung umschrieb Feuerstein 1939 geradezu pathetisch: "Und durch dieses Vergessen spriesst dann manche kleine Arve". Zwar sei im Handeln des Tannenhähers keine Planmässigkeit oder Absicht zu erkennen, und doch sei es erstaunlich, "wie unser Schöpfer, trotz des Unfugs der Vögel, alles so weise fügt (...), dass der Häher, trotz seiner elenden Verschwendungssucht, ein recht nützlicher Vogel ist".
Verbreitung gegen die Schwerkraft
Der Grund für diese Würdigung des Tannenhähers liegt in der von Rikli erkannten Schlüsselfrage, wie sich die schweren, ungeflügelten Samen der Arve über ein bestehendes Areal hinaus verbreiten. Und tatsächlich: Ohne den Tannenhäher würde sich die Arve nur talwärts ausbreiten, wenn Nüsschen zum Beispiel in Lawinen, Murgängen oder Sturzbächen mittransportiert werden. Erst der Tannenhäher ermöglicht die Verbreitung gegen die Schwerkraft. Der Rabenvogel versteckt Arvennüsschen sogar an und über der Baumgrenze. Hier gedeiht die Arve nahezu konkurrenzlos, wenn auch unter widrigen Bedingungen.
Die Arvenschmiede
Auf einem aperen Felsblock unter einer schneebedeckten Arve liegen Zapfen, Arvennüsschen und Schuppen. Die Zapfen riechen fein nach Harz, nach Märchenwald. In der Baumkrone ist ein Krächzen zu hören; offenbar wurde der Tannenhäher soeben von seiner Arvenschmiede aufgescheucht. Sei es auf einem Felsen, Baumstrunk oder Ast: Auf der Arvenschmiede meisselt der Tannenhäher mit seinem kräftigen Schnabel die Schuppen vom Zapfen weg, pickt die Nüsschen heraus und verstaut sie samt Schale in seinem Kropf.
Mit bis zu 100 Arvenkernen im Kropf fliegt der Tannenhäher davon. Im Umkreis von 15 Kilometer legt er unzählige Vorratslager für den Winter an, gegen 10 000 Verstecke kommen so pro Jahr zustande. Er überwindet dabei bis zu 600 Höhenmeter. Rund 80 bis 90 Prozent der im Herbst angelegten Verstecke findet der schlaue Vogel wieder – selbst unter einer dicken Schneedecke, durch die er einen schrägen Tunnel gräbt. Doch in der Regel wählt er Verstecke aus, wo wenig Schnee zu liegen kommt oder wo dieser frühzeitig schmilzt: bei einem südexponierten, wärmeabstrahlenden Felsen oder in der Höhle eines alten Baumstrunks.
Tannenhäher und Arve – das ist eine fruchtbare, symbiotische Beziehung zwischen dem "gefiederten Förster" und der "Königin der Alpen".