Bis vor einigen Jahren galt der Regenwurm (Lumbricus spec.) auch in den USA als allgegenwärtiger, wichtiger Nützling bei der Humusproduktion. Als Ökologen dort Mitte der 90er Jahre herausfanden, dass der Regenwurm auf manchen Waldflächen komplett fehlte, wurde noch wild über mögliche Ursachen spekuliert. Erst die Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Verschwinden vieler Krautpflanzen und den Flächen mit Regenwürmern machte den Forschern klar, dass die bisherigen Annahmen über Regenwürmer in den Staaten grundlegend falsch waren.
Denn es stellte sich heraus, dass es unter den amerikanischen "Eingeweiden der Erde", wie Aristoteles die Würmer nannte, bisher gar keine "regen Würmer" gab, wie sie aus Europa bekannt waren – die Flächen ohne Regenwürmer waren in Wirklichkeit der ökologische Normalfall in Nordamerika. Die einheimischen Würmer waren in der Eiszeit von den Gletschern so weit nach Süden abgedrängt worden, dass sie den Rückweg bis heute nicht mehr geschafft haben. Somit entstand ein Ökosystem das auf Regenwürmer nicht eingestellt ist.
Mit den europäischen Siedlern gelangten die Würmer wieder zurück in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da die natürliche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Würmer nur 5 - 10 Meter pro Jahr beträgt, waren die Auswirkungen zunächst gering. Seit etwa 3 Jahrzehnten erwächst daraus aber ein für europäische Ohren fast unglaubliches Problem.
In den amerikanischen Wäldern wird die Streu am Waldboden nur langsam von Pilzen und Mikroorganismen zersetzt. In Europa dagegen hilft der Regenwurm maßgeblich mit. Die Folge: Die Streuschicht ist in den meisten Wäldern der USA durch die langsamere Zersetzung viel dicker. Überall, wo der Regenwurm auftaucht, verschwindet diese Streuschicht und mit ihr alle davon abhängigen Lebensgemeinschaften innerhalb weniger Jahre. Beschleunigt wird der Prozess dadurch, dass die Blätter des vielerorts vorherrschenden Zuckerahorns offenbar wesentlich leichter verdaulich sind als die der heimatlichen Buchen. Inzwischen verlieren nicht nur Krautpflanzen, Kleinsäuger und Vögel in den betroffenen Gegenden ihren Lebensraum. Auch die Zusammensetzung der Baumarten könnte sich langfristig ändern, da sich z.B. die Keimlinge des Zuckerahorns auf den kahlen Böden nicht mehr halten können.
Selbst der Wald als Ganzes ist vielerorts in Gefahr. Denn der Boden ist jetzt oft schon im Frühjahr kahl, so dass die Erosion grossflächig ansetzen kann. Nährstoffe, die bisher in der Streu gebunden waren, werden freigesetzt und abtransportiert.
Ein direkter Ausweg aus dem Dilemma erscheint derzeit unmöglich. Gift ließe sich nicht auf den Regenwurm alleine beschränken und die Einführung natürlicher Feinde birgt das unkalkulierbare Risiko eines neuen Immigranten. Um die Ausbreitung wenigstens zu verlangsamen gibt es in einigen Regionen z.B. schon Vorschriften für Angler, die durch das Freilassen unverbrauchter Köderwürmer entlang der Flüsse und Seen die Hauptschuld an der Verbreitung der Regenwürmer ausserhalb kultivierter Landschaften tragen. Aber auch Fahrer von Geländewagen könnten bald in das Visier der Gesetzeshüter kommen, wenn sie ihre Fahrzeuge nicht vor der Fahrt ins Grüne gründlich abwaschen.