Forschungsgeschichte
In Niedersachsen begann die Naturwaldforschung in den 1970er-Jahren. Die Abteilung Waldbau der Tropen und Naturwaldforschung der Forstlichen Fakultät der Universität Göttingen richtete ein System von 63 „Naturwaldreservaten für Lehre und Forschung“ in einem Flächenumfang von rund 1.000 ha ein. Im Jahr 1986 wechselte die Zuständigkeit an die heutige Nordwestdeutsche Forstliche Versuchsanstalt (NW-FVA). In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde das Flächensystem ausgebaut, bis heute (Stand 2024) auf 107 Gebiete mit einer Gesamtfläche von 4.445 ha.
Mittlerweile decken die Zeitreihen für die Dynamik des Gehölzbestandes rund fünf Jahrzehnte und diejenigen der Vegetation drei Jahrzehnte ab. Die vegetationskundlichen Wiederholungsaufnahmen wurden inzwischen auch in internationale Datenbanksysteme (sMon, ReSurveyEurope, ForestReplot) aufgenommen. Sie werden zudem für die Analyse der Auswirkungen des Klimawandels, atmosphärischer Einträge, des Nutzungswandels und der Habitatfragmentierung auf der globalen und regionalen Ebene genutzt. Die waldkundlichen Datenreihen werden in zahlreichen internationalen Forschungs- und Publikationsvorhaben eingesetzt (z. B. Hülsmann et al. 2016, Käber et al. 2021, EuFoRIa-Netzwerk, EU Horizone Projekt Wildcard). Sie zählen europa- und vermutlich auch weltweit zu den längsten Zeitreihen unbewirtschafteter Waldbestände.
Abb. 2: Konzeptionelles Modell für die Untersuchung des Gehölzbestandes in den Naturwäldern Niedersachsens. Grafik: NW-FVA
Erfolgsfaktoren
Ausschlaggebend für den Erfolg der Naturwaldforschung war die Verankerung in einer Versuchsanstalt mit Tradition in der Langzeitforschung und eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung. Auch die Konzentration auf wissenschaftliche Publikationen, die kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsabläufe (insbesondere im Bereich des Datenmanagements), die Abstufung der Forschungsintensität und nicht zuletzt die politische Unterstützung der Naturwaldidee haben wesentlich dazu beigetragen, dass die niedersächsische Naturwaldforschung eine insgesamt erfolgreiche Bilanz ziehen kann.
Abb. 3: Der Naturwald „Hünstollen“ im Göttinger Wald in Niedersachsen wurde 1972 ausgewiesen. Foto: Andreas Mölder (NW-FVA)
Abb. 4: Der Naturwald „Vogelherd“ im Solling in Niedersachsen wurde ebenfalls 1972 ausgewiesen. Foto: Andreas Mölder (NW-FVA)
.
Schwierigkeiten der Langzeitforschung
Dieser Erfolg ist allerdings nicht selbstverständlich. Oft werden die Schwierigkeiten der Langzeitforschung in komplexen Ökosystemen erheblich unterschätzt. Vor allem der „Zauber des Anfangs“ lässt die Mühen der nüchternen gedanklichen Vorarbeit, der stringenten Umsetzung und der In-Wertsetzung des Vorhandenen häufig in den Hintergrund treten; nach dem Motto: „Es ist immer einfacher, Mittel für den Kauf eines neuen Gemäldes zu bekommen als für die Pflege von Kunstwerken, die bereits vorhanden sind“ (Übersetzung eines Zitats von Max Bourke).
Erfahrungen der Naturwaldforschung
Die wichtigsten Erfahrungen können folgendermaßen zusammengefasst werden:
- Die schwierigste Aufgabe besteht darin, eine langfristig relevante Zielstellung operational zu definieren.
- Eine sorgfältig geplante Anpassung an neue Fragestellungen gewährleistet Relevanz und Zukunftsfähigkeit. Die Aufrechterhaltung einer gut nutzbaren Zeitreihe ist im Konfliktfall aber wichtiger.
- Nicht reproduzierbare Verfahren sollten eingestellt werden.
- Robustheit und Einfachheit der Methoden gehen vor Eleganz und Neuartigkeit.
- Der wichtigste Erfolgsmaßstab ist ein günstiges Verhältnis von konkreten Ergebnissen wie Publikationen, Vortrags- und Lehrgangsinhalten etc. zum erforderlichen Aufwand.
Wichtige Ergebnisse
In Bezug auf Buchen- und Eichenwälder zeigen die Ergebnisse unserer Langzeituntersuchungen eine erhebliche Anreicherung von Biomasse und Totholz bei überwiegender Zunahme der Strukturvielfalt. Während die Artenvielfalt der Waldbodenpflanzen in Buchenwäldern überwiegend abnimmt, können generalisierende Aussagen zur Entwicklung der Baumartvielfalt bisher nicht gemacht werden. Als Schlüsselfaktoren erweisen sich ökologische Störungen. Sie erhöhen die Artenvielfalt der Waldbodenpflanzen und Bäume sowie die Strukturdiversität und beschleunigen die Anreicherung von Totholz. Nach Störungen zeigen die Naturwaldbestände immer wieder ein hohes Regenerationsvermögen. Es entstehen heterogenere Waldstrukturen mit einer vermutlich erhöhten Resilienz gegenüber künftigen Störungen.
Abb. 5: Ergebnisse aus Vergleichsstudien bewirtschafteter und unbewirtschafteter mitteleuropäischer Laubwälder im Hinblick auf die Artenvielfalt (J = Zeitreihen, N = Space-for-time-Untersuchungen). Die Zahlen in den Säulen geben die absolute Anzahl der Ergebnisse mit positiven, negativen und unklaren Effekten der Nutzungseinstellung je Artengruppe an. Grafik: NW-FVA
Literaturstudie Artenvielfalt
Abgesehen von Vegetation und Waldstruktur fehlen bisher systematische Biodiversitätsuntersuchungen in den niedersächsischen Naturwäldern. Um diese Lücke zu füllen, wurde eine Literaturstudie durchgeführt, in der die veröffentlichten Vergleichsuntersuchungen bewirtschafteter und unbewirtschafteter Laubwälder in Mitteleuropa ausgewertet wurden.
Die Analyse von 54 Publikationen mit 110 artengruppenweisen Vergleichen zeigt, dass in unbewirtschafteten Wäldern meist eine geringere Artenvielfalt der Gefäßpflanzen und eine höhere Artenvielfalt der Flechten, Pilze, Vögel und Arthropoden festgestellt wurden. Einschränkend ist zu erwähnen, dass die forstliche Nutzung in den vorliegenden Studien meist nur pauschal (Bewirtschaftung ja/nein) betrachtet wird und vorwiegend Altbestände untersucht wurden. Zudem liegen nur wenige Langzeitstudien vor und oft fehlt eine qualitative Betrachtung der Artenzusammensetzung im Sinne lebensraumtypischer Biodiversität. Erforderlich wären daher verbesserte Langzeitstudien der lebensraumtypischen Artenzusammensetzung bewirtschafteter und unbewirtschafteter Wälder auf verschiedenen räumlichen Skalen.
Abb. 6: Kartierte Spuren der Landnutzungsgeschichte im WABI-Pilotgebiet Weserhänge. NWE-Wald mit natürlicher Entwicklung. Kartengrundlage: DGM1 ©HVBG. Grafik: NW-FVA
Biodiversitätsmonitoring in NWE-Wäldern
Aus diesem Grund wurde ein Konzept für das Biodiversitätsmonitoring in den niedersächsischen Wäldern mit natürlicher Entwicklung entwickelt und in den Jahren 2022 und 2023 praktisch erprobt. Auf landesweit verteilten Stichprobenflächen erfassten die Forscherinnen und Forscher Totholzkäfer, Laufkäfer, Wanzen, Spinnen, Vögel, Fledermäuse und Pilze ebenso wie Daten zur Waldstruktur und zum Mikroklima. Hierbei kamen sowohl klassische Verfahren, wie eine Probekreisinventur der Waldstruktur, als auch die akustische Erfassung von Vogelstimmen und Fledermäusen zum Einsatz. Sie analysierten zudem die Landnutzungsgeschichte, um die Habitatkontinuität der Probeflächen einschätzen zu können. Das Monitoring-Konzept hat seine Erprobungsphase erfolgreich bestanden und wird nun in einem rollierenden Ansatz (jährliche Erfassung einer Unterstichprobe) fortgeführt. Auch die anderen Trägerländer der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt haben sich dem Monitoring-Programm angeschlossen.
Fazit
Naturwaldforschung ist insbesondere im Klimawandel relevant, um das eigendynamische Regenerationsvermögen unserer Wälder und auch die Toleranzbereiche unserer Baumarten besser zu verstehen. Eine Fortführung der bisherigen Forschungslinie in Kombination mit neuen Ansätzen für das Biodiversitätsmonitoring kann zur Lösung dringender Fragen des Natur- und Klimaschutzes beitragen. Um das Potenzial der Naturwaldforschung vollständig zu erschließen, sollten die Forschungsarbeiten dauerhaft bundesweit koordiniert und angesichts der aktuellen forst- und naturschutzpolitischen Herausforderungen die systematische Biodiversitätsforschung in Wäldern mit natürlicher Entwicklung weiter ausgebaut werden.