Um den Grad der Natürlichkeit von Buchenwaldflächen im Schweizer Mittelland zu erfassen, wendeten Wissenschafter ein Verfahren zur Quantifizierung des aktuellen Zustandes und des menschlichen Einflusses von zwei Buchenwald-Gebieten an. 51% der Testflächen können als naturnah bezeichnet werden, während 10% der Testflächen vom Menschen stark verändert sind. Zwischen den beiden Buchenwald-Gebieten Zürich und Zofingen (Kanton Aargau) bestehen kaum Unterschiede.
Grossflächige, vom Menschen völlig unbeeinflusste Wälder existieren in der Schweiz heute nicht mehr. Der anthropogene Einfluss ist in verschiedener Hinsicht deutlich erkennbar:
Vielerorts spielt die Forstpolitik eine wesentliche Rolle (z.B. Waldbaumethoden). Auch werden Waldflächen durch Neophyten (z.B. Roteiche, Douglasie oder Drüsiges Springkraut) und andere, durch die Tätigkeiten des Menschen begünstigte, standortfremde Pflanzenarten stark beeinflusst. Der Eintrag von Schadstoffen aus der Luft führt zur Schwächung der Bäume und trägt damit auch zur Veränderung der Wälder bei. Und schliesslich ist für jeden Spaziergänger im Wald deutlich sichtbar, dass der Bau von Wegen, Strässchen und anderen Einrichtungen den natürlichen Zustand des Waldes lokal oder auch grossräumig stark verändert.
Wenn man solche anthropogenen Veränderungen im Wald eingrenzen oder gar vermindern will, so muss man den aktuellen Zustand des Waldes erfassen. Dazu kann man beispielsweise die Pflanzenvielfalt ausgewählter Flächen bestimmen. Wer zudem einen Anhaltspunkt darüber erhalten möchte, wie stark der Wald von seinem potenziell-natürlichen Zustand abweicht, muss entsprechend die Natürlichkeit bzw. die Hemerobie (Grad der menschlichen Vegetationsbeeinflussung) des Waldes erfassen.
Unter diesem Aspekt knüpften die Autoren an. Sie beschäftigten sich mit anthropogenen Veränderungen von zwei Buchenwald-Gebieten des Schweizer Mittellands (Zürich, Zofingen) und zeigen eine Möglichkeit auf, wie man nebst der Pflanzenvielfalt auch die Natürlichkeit bzw. Hemerobie einer Waldfläche erfassen kann.
Hemerobie
Das Wort "Hemerobie" stammt von den griechischen Wörtern hémeros (gezähmt, kultiviert) und bíos (leben) ab. Die Hemerobie gibt den Grad der menschlichen Beeinflussung der Natur an.
Methode
Abb. 2 - Verknüpfungsbaum zur Berechnung des Gesamthemerobiewertes aus den fünf Einzelkriterien. 1,0 bis 3,0 stellen die hier nicht weiter behandelte Gewichtung der fünf Bewertungskriterien dar.
Abb. 3 - Hemerobiewerte mit entsprechenden Hemerobieklassen und Natürlichkeitsstufen. PNV=Potenziell-natürliche Vegetation
Die Bestimmung der Hemerobie ist so aufgebaut: Zuerst berechnet man für jede einzelne Testfläche die Hemerobiewerte von fünf Einzelkriterien, die dann zu einem Gesamthemerobiewert verknüpft werden (Abb. 2). Der Gesamtwert stellt dann den Grad der menschlichen Beeinflussung auf der jeweiligen Testfläche zusammenfassend dar. Bei den fünf Einzelkriterien handelt es sich um drei Kriterien, welche die drei Vegetationsschichten (Baum-, Strauch- und Krautschicht) bewerten und um zwei weitere Kriterien, die anthropogene Einflüsse mit einbeziehen (Neophyten, Boden).
Resultate
Abb. 4 - Verteilung der 41 Flächen auf die fünf Hemerobiestufen
Abbildung 4 gibt einen Überblick über die Verteilung der 41 Testflächen auf die fünf Hemerobiestufen. Die Hemerobiestufe 1 (künstlich, aktuelle Vegetation hat nichts mit der potenziell-natürlichen Vegetation gemeinsam) wurde erwartungsgemäss kein einziges Mal vergeben, denn bei der Auswahl der Testflächen wurden solche künstlichen Flächen (z.B. Fichtenhorste auf Buchenwaldstandorten) gezielt ausgeklammert. Dass nur gerade eine Fläche in die Hemerobiestufe 5 fällt (natürlich), ist ebenfalls nicht sonderlich erstaunlich, denn durch die Forstwirtschaft, die intensive Freizeitnutzung, die Nähe von Siedlungen und Gärten oder den Einfluss von Wegrändern treten praktisch überall mehr oder weniger grosse Abweichungen von der potenziell-natürlichen Vegetation auf.
Die Ergebenisse lassen sich so zusammenfassen:
- 51% der Testflächen sind naturnah.
- 37% der Testflächen sind mässig verändert.
- 10% der Testflächen sind stark verändert.
- Es gibt kaum Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten.
Empfehlungen zur Erhaltung der untersuchten Waldgebiete
Insgesamt konnten sowohl bezüglich der Hemerobie als auch der Biodiversität nur sehr geringe Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsgebieten festgestellt werden. Der Verdacht, dass im Gebiet Zürich wegen der stadtnahen Lage und den damit verbundenen anthropogenen Einflüssen verstärkt mit Natürlichkeitseinbussen im Wald gerechnet werden muss, bestätigt sich nicht auf Grund der oben beschriebenen Untersuchungen. Die verstärkten anthropogenen Einflüsse, die von einem grossen Siedlungsgebiet ausgehen, scheinen nicht derart bedeutend zu sein, dass sie die Natürlichkeit des Waldes mehr beeinträchtigen würden als andere Einflüsse.
Mindestens so wichtig für die Hemerobie eines Waldgebietes scheinen vor allem die forstlichen Eingriffe zu sein. Das heisst, dass es vor allem die Forstwirtschaft in der Hand hat, einen natürlichen, gesunden Wald zu erhalten. Daneben kann aber auch von den politischen Gemeinden, von Gärtnern und von jeder Privatperson ein Beitrag zur Erhaltung oder Verbesserung des Zustandes unserer Wälder geleistet werden, indem insbesondere
- darauf geachtet wird, dass beim Erstellen von Waldwegen sowohl der Jungwuchs als auch der Boden möglichst schonend behandelt werden;
- die Weg(rand)bewirtschaftung nur soweit dringend nötig vollzogen wird (keine oder nur sehr seltene Mahd, kein Kieseintrag in angrenzende Waldflächen);
- der Wasserhaushalt in den Wäldern (z.B. Wege und Entwässerungsgräben, Bodenverdichtung) nicht verändert wird;
- keine exotischen Pflanzen in waldnahe Gärten gepflanzt werden, die bevorzugt verwildern, sich invasiv verhalten und die einheimische Flora verdrängen können;
- beim Spazieren, Velofahren usw. im Wald die Wege nicht verlassen werden, um Trittschäden und Eutrophierung zu vermeiden;
- kein Material wie Kompost oder Gartenabfälle im Wald oder am Waldrand deponiert wird.