Ein klarer Märztag im Nationalpark Bayerischer Wald. Lange Trommelreihen klingen durch den totholzreichen Bergmischwald. Diese Töne erfreuen jeden Ornithologen, denn jahrzehntelang konnte ihr Urheber, der Weissrückenspecht, im Bayerischen Wald nicht mehr nachgewiesen werden. Intensive Waldnutzung auf grosser Fläche hatte diese Vogelart bis in die 1970er-Jahre in die kleinen Reliktflächen alter Buchen-Tannenbestände zurückgedrängt und schliesslich zu ihrem lokalen Verschwinden geführt.

Erst seit der Gründung des Nationalparks 1970 stellten sich die für diesen "Urwaldspecht" überlebensnotwendigen Totholzstrukturen in ausreichendem Umfang wieder ein, so dass die Art mindestens seit 2010 wieder regelmässig im Nationalpark brütet. Doch Erfahrungen aus dem Alpenraum zeigen, dass dieser Specht durchaus auch in extensiv bewirtschafteten Wäldern existieren kann. Daraus stellt sich unmittelbar die Frage: Welche Schlüsselstrukturenin welcher Ausprägung braucht es, damit auch anspruchsvolle Arten in Wirtschaftswäldern überlebenkönnen?

Das Bergmischwaldprojekt – Schlüsselstrukturen und Schwellenwerte

Dieser Frage widmete sich von 2007 bis 2010 ein von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) finanziertes Forschungsprojekt im Nationalpark Bayerischer Wald, im Folgenden "Bergmischwaldprojekt" genannt. Es wurde in einer Kooperation mit den Bayerischen Staatsforsten und der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft durchgeführt.

Grundlage der Analysen des Bergmischwaldprojektes waren 293 bis zu eine Hektare (100 x 100 Meter) grosse Probeflächen im Nationalpark Bayerischer Wald, auf denen 24 Artengruppen möglichst vollständig untersucht wurden. Daneben erhoben, massen und modellierten die Wissenschaftler im gleichen Zeitraum und auf denselben Flächen 28 Umweltparameter wie Höhenlage, Klimaparameter, Waldstruktur und Bodeneigenschaften, so dass sich das Auftreten der untersuchten Arten und Artengruppen in Abhängigkeit zu den Umweltparametern untersuchen liess. Die Forschenden nutzten dabei statistische Methoden, um die wichtigsten Schlüssel- und Schwellenwerte für das Vorkommen naturschützerisch relevanter Arten und Artengruppen zu errechnen.

Totholz sorgt für Leben

Die grosse Bedeutung des Totholzes zeigte sich bereits früh im Projekt. Denn Totholz liefert nicht nur Nährstoffe, fördert die Bodenbildung, beschleunigt die Naturverjüngung, bietet Schutz gegen Bodenauswaschung und Erosion sowie vor Lawinen und Steinschlag, sondern ist auch Lebensraum für rund einen Drittel aller im Wald lebenden Arten.

Alle Durchmesser von Totholz – dickes und dünnes, aber auch Äste – sind wichtig für den Artenreichtum und beherbergen ihre Spezialisten. Aber auch die Art des Totholzes hat eine hohe Bedeutung. So wird der Bergahorn schon bei relativ kleinen Dimensionen (ab 60 cm Durchmesser in Brusthöhe) durch eine artenreiche Flechtengemeinschaft besiedelt, was bei Buchen und Tannen erst bei starken Dimensionen der Fall ist. Fichten weisen hingegen über die ganze Breite der Stammdurchmesser ein relativ ausgeglichenes, vergleichsweise niedriges Artenniveau bei den Flechten auf.

Während in Urwäldern die durchschnittlichen Totholzmengen bei 100 m³ je Hektare und darüber liegen, ist Totholz in Wirtschaftswäldern Mangelware. In einem mitteleuropäischen Urwald erreicht der Totholzanteil an der gesamten Biomasse 10 bis 30 Prozent. In Wirtschaftswäldern liegt er hingegen bei durchschnittlich nur 3 Prozent der gesamten Holzmasse. Viele der Totholz besiedelnden Arten ertragen jedoch keinen Mangel an Totholz, denn sie mussten sich im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte nicht auf Mangelsituationen einrichten.

In dieser Gruppe sind besonders viele gefährdete Arten vertreten. Das Bergmischwaldprojekt und andere Forschungsarbeiten für Buchenwälder der Hügelländer, Mittelgebirge und Gebirge zeigen, dass die Gemeinschaft der Totholz besiedelnden Arten ab rund 30 m³ Totholz je Hektare zunimmt und ab 60 m³ je Hektare deutlich höhere Dichtewerte aufweist.

Alte Wälder braucht das Land

Durch den Verlust alter Wälder sind Arten besonders gefährdet, die sesshaft leben, gleichzeitig ausbreitungsschwach oder mit Mikrohabitaten verbunden sind, die man nur in naturnahen Wäldern oder Urwäldern findet. Alte Wälder haben daher hohe Bedeutung als Refugien für Arten der Urwälder sowie als Spenderflächen für die Besiedlung neu entstehender naturnaher Waldbestände.

Holz bewohnende Käfer sind von Natur aus besonders auf alte Waldstrukturen angewiesen. Durch das Bergmischwaldprojekt konnte gezeigt werden, dass die Artendichten bei den gefährdeten holzbewohnenden Käfern der alten Wälder signifikant höher sind als in Management-(Borkenkäferbekämpfung) und Prozessschutzflächen (kein menschlicher Eingriff seit Jahrzehnten).

Vergleicht man die im Rahmen des Bergmischwald-Projektes erhobenen Artenzahlen von Brutvögeln, Schnecken und Flechten je Probefläche, so zeigt sich, dass bei allen Artengruppen die Artenzahl mit dem Waldalter steigt. Diese Beobachtung trifft auf die gesamte Artengemeinschaft ebenso zu wie auf die gefährdeten Arten alleine. Ähnliches kann auch mit Daten aus den Buchenwäldern des Steigerwaldes in Nordbayern belegt werden.

Die statistisch ermittelte Schwelle, die artenreiche von artenarmen Waldbeständen trennt, liegt in der Mittelgebirgsstufe des Steigerwaldes zwischen 100 und 170 Jahren und bei den Bergmischwäldern des Bayerischen Waldes zwischen 160 und 220 Jahren. Allgemein gilt, dass Bergmischwälder für Artengruppen, die auf Strukturen alter Wälder angewiesen sind, ab rund 200 Jahren einen statistisch nachweisbar höheren Wert haben. Dies unterstreichen auch die Daten zu den Holzpilzen, die in Bergmischwäldern erst ab rund 230 Jahren Bestandsalter signifikant höhere Artenzahlen bei allen Arten wie auch bei gefährdeten Arten erreichen.

Eine trockene Unterkunft im Wald

Baumhöhlen stellen eine Schlüsselstruktur für eine Vielzahl von Lebewesen in Wäldern dar. Im Rahmen des Bergmischwaldprojektes fanden die Forschenden durchschnittlich 1,5 Höhlenbäume bzw. 2,5 Höhlen je Hektare.

Maximal wurden auf einer Hektare 12 Höhlenbäume und 31 Höhlen gefunden. Von den 850 kartierten Höhleneingängen konnten knapp 80 Prozent Spechten zugeordnet werden, die damit eine Schlüsselartengruppe in Bergmischwäldern darstellen. Sie schaffen durch den Höhlenbau Quartiere, in denen eine Vielzahl von Vogel-, Säugetier- und Insektenarten leben. Selbst Pilze nutzen häufig diese Höhlen als Eintrittspforten in noch lebende Bäume.

Als überragende Faktoren für das Vorkommen von Höhlen identifizierten die Forschenden das Volumen an Totholz und das Alter des Baumbestandes. Die höchsten Höhlendichten konnten in Wäldern gefunden werden, die älter als 220 Jahre sind. Ab fünf Höhlenbäumen pro Hektare erhöht sich die Zahl der in Baumhöhlen brütenden Vogelarten signifikant.

Licht und Schatten

Im Bergmischwald können nur in Auflichtungen Sonnenstrahlen und somit Wärme bis zum Boden vordringen. Dies gilt auch für Borkenkäfer- oder Windwurf-Flächen. Aus menschlicher Sicht werden diese oft als "Katastrophenflächen" bezeichnet. Für die biologische Vielfalt ist es jedoch genau anders herum: Über alle Artengruppen hinweg finden sich doppelt so viele Arten auf diesen Flächen im Vergleich zum dichten, geschlossenen Wald.

Die Daten des Bergmischwaldprojektes zu 1641 Arten aus allen untersuchten Artengruppen zeigen, dass 661 Arten, also rund 40 Prozent aller Arten, eine statistisch nachweisbar positive Beziehung zur Auflichtung aufweisen. Hierzu zählen pflanzenfressende Käfer, Wanzen und Stechimmen, aber auch Flechten. Die Artenzahl der gefährdeten Totholz besiedelnden Käfer steigt nur in den Borkenkäferlücken, da hier das Totholz als lebenswichtiges Substrat verbleibt – anders als in den menschengemachten Lücken. So steht das Vorkommen von rund 140 Arten der Bergmischwälder in indirekter Verbindung zum Wirken des Buchdruckers. Von Auflichtung profitierende Artengruppen traten ab rund 0,5 ha Lückengrösse statistisch nachweisbar häufiger auf.

Neben den Arten, die lichten Wald bevorzugen, gibt es auch viele Bewohner dichter Waldbestände, zum Beispiel viele Pilzarten. Rund 215 Arten (13 Prozent) des im Bergmischwaldprojekt untersuchten Artenspektrums zeigen eine statistisch nachweisbare Abhängigkeit zum Waldinneren auf. Ihre Lebensräume sind vergleichsweise stabil. Die Arten, die sich hier entwickelten, konnten sich spezialisieren, um Konkurrenz auszuschalten. Sie mussten sich nicht auf ständig neu entstehende Lebensräume einrichten und sind oft wenig mobil. Viele dieser Arten haben lange Entwicklungsphasen, weil ihr Lebensraum dauerhaft zur Verfügung steht.

Generell zeigt sich, dass in den dichten Wäldern die grossen, konkurrenzstarken und wenig mobilen Arten vorherrschen, während auf den offenen Flächen kleine mobile Arten dominieren. Die Herkunft der Besiedler lichter Waldbestände sind oft natürliche Lichtungen wie Moore. Wälder mittlerer Beschattung, wie sie die moderne Forstwirtschaft regelmässig hervorruft, werden hingegen nur von wenigen Arten bevorzugt.

Sind die Ergebnisse auf die Schweiz übertragbar?

Die Forschungen im Nationalpark Bayerischer Wald bieten günstige Voraussetzungen für die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere mitteleuropäische Gebiete. Zum einen bildet der Nationalpark Bayerischer Wald einen repräsentativen Ausschnitt des Bergmischwaldes in Mitteleuropa (240 km²) entlang eines langen Höhengradienten von rund 800 Höhenmetern (von 655 m bis 1420 m ü.M.) und in verschiedensten Ausprägungen (Bodentypen, Auflichtungsgrade usw.).

Zudem stehen neben den Wirtschaftswäldern auch seit Jahrhunderten ungenutzte Bestände für Untersuchungen zur Verfügung, ein Umstand, der in den meisten Wirtschaftswäldern nicht gegeben ist. Schliesslich ist das Gebiet gross genug, um räumlich unabhängige und somit statistisch abgesicherte und auf grössere Regionen übertragbare Ergebnisse zu erzielen.

Die Schwellenwerte in der forstlichen Praxis

Um Schlüsselstrukturen zu erhalten und Schwellenwerte zu erreichen, sollen auf Bestandsebene die folgenden Massnahmen ergriffen werden:

  1. Die Nichtnutzung rauborkiger Laubbaumarten, insbesondere des Bergahorns, und die Nichtnutzung von mindestens 10 Biotopbäumen pro Hektare, die als potenzielle Höhlenbäume und Methusalems, später als stehendes Totholz ihre ökologische Wirkung entfalten können.
  2. Die nur noch in Resten vorhandenen alten Bestände (> 200 Jahre) nicht nutzen. Diese Wälder weisen oft lange Traditionen für Lebensräume an absterbenden Bäumen auf. Es ist daher besonders wichtig, dass in ihnen die Bäume bis zum Verfall ungenutzt bleiben.
  3. Über 300 Jahre alte Tannen erhalten.
  4. Je Hektare mindestens fünf Höhlenbäume, wo vorhanden, markieren und von einer Nutzung verschonen.
  5. Das Belassen stark dimensionierten Totholzes, gebrochener und absterbender Bäume im Bestand (Buche über 20 cm, Tanne über 50 cm Durchmesser in Brusthöhe).
  6. Im Zuge aller Hiebsmassnahmen gezielt Starkkronen oder ökonomisch weniger wertvolle Stammteile liegen lassen.
  7. Bei Windwurfflächen mindestens auf 0,5 Hektaren Totholzstrukturen erhalten. In der Schweiz gibt es dazu mit dem Sturmschadenhandbuch eine gute Anleitung.
  8. Wo vorhanden, einen Laubbaumanteil von über 60 Prozent erhalten. Die Forschung im Nationalpark Bayerischer Wald zeigte, dass beispielsweise Vogelarten, die von Laubbäumen profitieren, im Bergmischwald ab 60 Prozent Laubbaum-Anteil deutlich häufiger vorkommen.

Die wissenschaftlich erarbeiteten Schwellenwerte veranschaulichen, welche Strukturen ein Teil der Biodiversität in unseren Wäldern benötigt. Die politische Diskussion wird zeigen, in welchem Umfang die Zusatzaufwendungen oder Mindererträge der Forstwirtschaft abgegolten werden.

Schlüssel- und Schwellenwerte

Ein Schlüsselwert definiert eine Umweltvariable, die in einer bestimmten Ausprägung vorhanden sein muss, damit naturschützerisch bedeutsame Arten oder Artengruppen vorkommen können. Dies kann beispielsweise Totholz für gefährdete Holzkäfer sein.

Im Gegensatz zu gesetzlichen, mathematischen oder medizinischen Grenz- und Schwellenwerten bezeichnet ein ökologischer Schwellenwert einen Übergangsbereich entlang eines Gradienten eines Schlüsselwertes, ab dem eine bestimmte Artengruppe oder Art statistisch signifikant häufiger oder seltener auftritt. So erhöht sich beispielsweise die Zahl der in Baumhöhlen brütenden Vogelarten ab fünf Höhlenbäumen je Hektar signifikant.