"Die Natur Natur sein lassen" lautet der Leitsatz des Nationalparks Bayerischer Wald, auch beim Wildtiermanagement. Rehe werden hier weder als Jagdbeute noch als Waldschädling betrachtet. Sie sind vielmehr Träger wichtiger natürlicher Prozesse und von großer Bedeutung für das Ökosystem. Entsprechend der internationalen Nationalparkvorgaben besteht das Ziel, auf mindestens 75 Prozent der Nationalparkfläche keinerlei Eingriffe in die Wildtierpopulationen vorzunehmen. Deshalb wurden bereits in den 1980er Jahren alle Rehfütterungen im Nationalparkgebiet aufgelöst und die Jagdruhezonen Stück für Stück vergrößert. Bis 2007 wurde die Rehjagd auf einer Fläche von 20.000 Hektar vollständig eingestellt – beste Voraussetzungen für das aktuelle Rehforschungsprojekt im Nationalpark.
Versuchskonzept
Die Rehforschung hat im Nationalpark Bayerischer Wald eine lange Tradition. Erste Projekte liefen in den 1970er Jahren. Die aktuelle Rehforschung ist grenzüberschreitend angelegt und erfolgt in enger Zusammenarbeit mit der Nationalparkverwaltung Šumava. Für die Forschungsarbeiten wurden fünf Schwerpunktgebiete ausgewählt, die sich hinsichtlich Waldanteil, Rehwildbejagung und Luchsvorkommen unterscheiden. Insgesamt sind im Projekt fünf Module formuliert:
- Modul 1: Raum-Zeit-Verhalten
Es werden 100 Rehe besendert und mindestens ein Jahr lang beobachtet. Die Daten geben Aufschluss über Habitatnutzung, Aktivitätsrhythmik und Wanderverhalten in Abhängigkeit verschiedener Variablen wie Lebensraum, Bejagungsintensität und Luchsvorkommen. - Modul 2: Wildtiermonitoring
Hier wird erforscht, inwieweit Populationsparameter wie Rehwilddichte, Altersstruktur, Geschlechterverhältnis, Mortalität und Reproduktion erfasst werden können. - Modul 3: Vegetation
Hier wird dem Einfluss des Rehs auf die Vegetationsentwicklung nachgegangen. Zum einen werden Äsungsqualität und -quantität auf Landschaftsebene bestimmt, um die Bewegungsmuster der Tiere erklären zu können. Auf der anderen Seite wird der Verbiss auf Landschaftsebene erfasst, um die Auswirkungen des Managements zu dokumentieren. Auf Bestandesebene werden die Mechanismen des Verbisses (Konkurrenz, Kleinstrukturen, Vegetation) ermittelt. - Modul 4: Wildkrankheiten
Seit 2009 werden Wildtiere auf mikrobiologische Parameter sowie Zoonoseerreger (Salmonellen, Paratuberkulose, STEC,…) untersucht. - Modul 5: Modellbildung und Simulation
Hier wird auf die Ergebnisse der anderen Module zurückgegriffen, um mit Hilfe von Simulationsmodellen das System besser verstehen und Managementvarianten überprüfen zu können.
Auf, auf und davon
Bisher ging man davon aus, dass Rehe sich in relativ kleinen Streifgebieten aufhalten und nur wenig umherwandern. Mit Hilfe der Satellitentelemetrie ist es nun möglich, das Wanderverhalten der Rehe genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei wird das Wanderverhalten drei Kategorien zugeordnet:
- Erkundungsverhalten: Die Tiere verlassen ihr Streifgebiet und kehren nach wenigen Tagen wieder zurück.
- Saisonale Wanderung: Die Tiere wandern im Spätherbst / Frühwinter nach Schneefall in tiefer gelegene Gebieten und kehren im Frühling wieder in ihre Sommerstreifgebiete zurück.
- Abwanderung: Die Tiere verlassen das Streifgebiet dauerhaft.
Für die Auswertung wurden nur Wanderungen berücksichtigt, bei denen sich die Tiere mehr als einen Kilometer von ihrem Streifgebiet entfernten. Von 56 überprüften Rehen zeigten 26 Tiere Wanderverhalten. Neun Tiere wanderten saisonal, sechs wanderten ab und bei elf Rehen wurde Erkundungsverhalten beobachtet (Abb. 2).
Rekordhalter bei der Abwanderung ist Schmalreh Halma, das insgesamt 91 Kilometer wanderte. Erstaunlicherweise lief sie einen großen Bogen, um sich am Ende nur drei Kilometer vom Heimatstreifgebiet entfernt niederzulassen. Die geringste Distanz, die bei der Abwanderung zurückgelegt wurde, betrug 28 Kilometer.
Auch beim Erkundungsverhalten legten die Tiere mit durchschnittlich 7,8 Kilometern relativ weite Strecken zurück. Spitzenreiter ist hier Bockkitz Jasper mit 37 Kilometern. Allerdings wurde in dieser Kategorie der gesamte Laufweg berechnet. Bei Abwanderung und saisonalen Wanderungen zählte nur die größte Entfernung zum Streifgebiet. Oft machten die Tiere mehrere Erkundungstouren. Bei Bockkitz Ralph beispielsweise wurden zwischen Januar und Mai sieben Ausflüge zwischen 1,6 und 16,5 Kilometern nachgewiesen.
Bei den saisonalen Wanderungen legten die Tiere im Durchschnitt eine Entfernung (einfache Strecke) von zehn Kilometern zurück. Rehbock Erich z.B. verbrachte den Sommer im tschechischen Nationalpark Šumava, den Winter über hielt er sich in der Nähe von Zwiesel auf.
Besonders "wanderlustig" waren die Böcke. Auf sie entfielen 26 von insgesamt 38 registrierten Wanderungen. Insbesondere ihr Erkundungsverhalten war viel häufiger. Bei saisonalen Wanderungen und Abwanderungen dagegen war das Geschlechterverhältnis ausgeglichen, wobei Abwanderungen vor allem bei Schmalrehen beobachtet wurden. Rehe wandern das ganze Jahr über, allerdings liegen die Schwerpunkte im Frühling (Mai) und beim Winterbeginn (November).
Größer als gedacht
Die Streifgebiete wurden nur in der territorialen Phase (1. Mai bis 31. August) berechnet und zwar für elf männliche und sieben weibliche Rehe. Daraus ergaben sich überraschend große Streifgebiete von durchschnittlich 351 Hektar (für Böcke 399 ha, für Geißen 432 ha). Die regelmäßig genutzten Bereiche innerhalb der Streifgebiete sind deutlich kleiner, betragen gemittelt über alle Rehe 137 Hektar, bei Geißen durchschnittlich 100 Hektar und bei Böcken 160 Hektar. Damit sind die Streifgebiete im Nationalpark Bayerischer Wald weitaus größer als in anderen Gebieten. Nur beim Sibirischen Reh (Capreolus pygargus) sind ähnlich große Streifgebiete beschrieben. Da die Streifgebietsgrößen eng mit der Rehdichte zusammenhängen, kann man auf eine eher geringe Dichte schließen.
Frühaufsteher und Spätausgeher
Mit Hilfe der Halsbänder war eine lückenlose Überwachung der Tiere möglich. Deren Aktivitätsschwerpunkte liegen in der Morgen- und Abenddämmerung (Abb. 3). Allerdings gibt es im Jahreslauf auch einige Ausnahmen. Im Frühling findet sich bis Anfang Juni eine ausgeprägte Tagesaktivität bei Böcken (Abb. 4). Diese lässt anschließend wieder nach um dann in der Paarungszeit im August ihren absoluten Höhepunkt zu finden. Auch von November bis Februar sind Böcke vor allem tagaktiv. Die Aktivitätsschwerpunkte in der Dämmerung sind im Winter nur wenig ausgeprägt. Aus diesen Informationen lässt sich herauslesen, wann eine effektive Bejagung der Tiere möglich ist.
Mehr Rehe = weniger Verbiss?
Der Rehabschuss wurde ausgehend von über 200 Tieren im Jahr 1992 kontinuierlich zurückgeführt und 2007 bis auf zehn Jährlinge für die Umweltprobenbank gänzlich eingestellt. Entgegen der Erwartungen ging parallel zur Abschussrücknahme auch der Leittriebverbiss bei der Vogelbeere von 60 auf aktuell 13 Prozent zurück (Abb. 5). Das lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Mitte der 1990er Jahre vermehrte sich der Buchdrucker im Nationalpark Bayerischer Wald sehr stark. Dadurch entstanden Freiflächen, auf denen sich die Waldvegetation üppig entwickeln konnte. Aufgrund dieses reichhaltigen Nahrungsangebotes verminderte sich der Verbissdruck auf die Waldverjüngung. Gleichzeitig stieg die Verjüngungsdichte stark an. Daher konnten auch mehr Pflanzen verbissen werden, bis das gleiche Verbissprozent erreicht wurde.
Dass die Winterfütterungen und Kirrungen aufgegeben wurden, spielt auch eine Rolle. Durch sie wurden die Rehe künstlich in den schneereichen Gebieten gehalten. Nachdem sie aufgegeben wurden, wandern die Tiere in die klimatisch günstigeren Tallagen ab. Im Winter halten sich dadurch weniger Tiere im Park auf, der Verbiss sinkt. Mit der Aufgabe der Winterfütterung dürfte sich auch die natürliche Mortalität, insbesondere in strengen Wintern, erhöht haben. Seit Anfang der 1990er Jahre ist zudem der Luchs wieder im Nationalpark, der als natürlicher Prädator ebenfalls eine Rolle für das Verbissgeschehen spielt. Die Beobachtungen zeigen deutlich, dass aktuell im Nationalpark Bayerischer Wald keine Regulierung der Rehe notwendig erscheint. Es wird aber auch deutlich, dass die Situation im Nationalpark nicht ohne weiteres auf normale Verhältnisse übertragen werden kann.