Der Wald ist der artenreichste Lebensraum in unseren Breitengraden. Rund 20'000 verschiedene Pflanzen-, Pilz- und Tierarten bevölkern den Schweizer Wald. Biotopbäume wie alte und dicke Bäume, Bäume mit Moos-, Pilz- und Flechtenbewuchs oder Bäume mit Greifvogelhorsten nehmen im Ökosystem Wald eine wichtige Stelle ein.
Der ökologische Wert eines Baumes steigt mit zunehmendem Alter markant an. Biotopbäume bieten wertvolle Nischen für hochspezialisierte Arten. Als Hotspots der Biodiversität müssen sie demzufolge dringend erhalten werden.
Vernetzung ist wichtig
Biotopbäume nehmen zudem eine wichtige Verknüpfungsfunktion zwischen Waldreservaten und Altholzinseln ein. Mindestens 10 Biotopbäume/ha wären für die Vernetzung artenreicher Waldflächen wichtig, Biotopbäume sollten also dringend erhalten werden. Die grösste Gefahr droht durch unabsichtliches Fällen der Bäume. Das Auffinden (Kartieren) und Markieren (in Absprache mit dem zuständigen Förster) der wertvollen Bäume hilft, dies zu verhindern.
Was sind Biotopbäume?
Biotopbäume sind meist alte und dicke Bäume mit besonderem Wert für die Flora und Fauna. Sie bilden im Ökosystem Wald ein Mikrohabitat mit spezifischen Eigenschaften für unterschiedliche Arten und erhöhen so die Biodiversität im Wald. Konkret werden als Biotopbäume bezeichnet:
- Bäume mit Stammverletzungen, Rissen und Rindentaschen und sogenannte "Saftbäume". Rindentaschen bilden sich bei teilweiser Ablösung der Borke vom Stamm. Sie bieten einen geschützten, oftmals warmen und trockenen Lebensraum für zahlreiche Käferarten, Spinnen, Wespen oder Wildbienen. Als Saftbäume werden Bäume bezeichnet, bei denen Baumsäfte austreten. Grund für den Austritt von Saft sind oft Borkenverletzungen.
- Uralte Bäume und Baumriesen. Sogenannte "Methusalems" weisen oftmals eine hohe Biodiversität auf. Die Habitattradition – ein über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ununterbrochenes Besiedeln eines Lebensraums – ist gerade auch für immobile Lebensformen wie Pilze, Flechten, Moose oder Käfer von grosser Bedeutung. Eichen können beispielsweise bis zu 1000 Jahre alt werden und über eine lange Zeitdauer hochspezialisierte Arten beherbergen.
- Bäume mit Mulmhöhlen, Stammfusshöhlen und Zwieseln gehören ebenfalls zu den Biotopbäumen. Faulhöhlen im Stammfuss eines Baumes sind ein seltener Lebensraum für Käfer und Pilze. Aber auch als Tagrastplatz für Fledermäuse oder als Unterschlupf für verschiedene Kleinsäuger sind Stammfusshöhlen wichtig. Der darin angesammelte Mulm, eine Mischung aus zersetztem Holz und Käferexkrementen, ist für viele Kleinlebewesen von existentieller Bedeutung. Zwiesel bezeichnet die Gabelungen von Bäumen in zwei oder mehrere Stämme.
- Horstbäume. Bäume mit Greifvogel- und Reiherhorsten. Viele Greifvögel sind standorttreu und benutzen die aufwändig hergestellten Horste über längere Zeit. Horstbäume müssen bestimmte Eigenschaften wie Anflugschneisen, grosse Kronen oder Ansitzwarten aufweisen und sind deshalb nicht beliebig ersetzbar.
- Höhlenbäume. Bäume mit vom Specht gezimmerten oder durch Fäulnisprozesse entstandenen Höhlen. Höhlenbäume sind wertvoll für zahlreiche Vogelarten, Säugetiere und Insekten.
- Bäume mit speziellem Moos-, Flechten- oder Pilzbewuchs haben ebenfalls einen hohen ökologischen Wert. Pilze und Flechten sind die artenreichsten Lebensformen im Wald und bevorzugen alte Bäume bzw. deren Umgebung. Bäume mit stark gefurchter Borke bilden ein wertvolles Mikrohabitat für spezifische Flechtenarten.
- Schrägwüchsige Bäume sind wichtige Lebensräume für Flechten und Moose. An der wasserzugewandten Oberseite finden Moose ideale Bedinungen, während die trockene Unterseite schrägwüchsiger Bäume für Flechten attraktiv ist.
- Mit Efeu oder anderen Kletterpflanzen überwachsene Bäume sind als Nahrungsgrundlage und Nistplatz für Vögel und Insekten von Bedeutung. Neben Bäumen mit speziellem Flechten-, Pilz- und Moosbewuchs gelten deshalb auch stark mit Efeu oder anderen Kletterpflanzen zugewachsene Bäume als Biotopbäume.
- Bäume mit abgestorbenen Ästen, Kronenbruch und Kronentotholz. Abgestorbene Stamm- und Kronenpartien an lebenden Bäumen bieten einen wertvollen Lebensraum für wärmeliebende Lebewesen. Insbesondere Kronentotholz zählt zu den herausragenden Standorten für hochspezialisierte Käferarten.
- Von hohem ökologischen Wert sind auch Weichhölzer. Salweide oder die Zitterpappel (Espe) sind Lebensraum von Raupen von Waldschmetterlingen sowie von zahlreichen Pilzarten.
Baummikrohabitate
Ein Biotop- oder Habitatbaum ist ein Baum, der mindestens ein Baummikrohabitat trägt. Baummikrohabitate sind klar abgegrenzte Habitatstrukturen, die von teilweise hochspezialisierten Arten oder Artengemeinschaften während zumindest eines Teils ihres Lebenszyklus genutzt werden.
Folgende 25 Kurzfilme zu Baummikrohabitaten (französisch, deutsche Untertitel) sind das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, dem Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement (INRAE) und dem Centre national de la propriété forestière (CNPF) in Frankreich. Die einzelnen Beiträge können rechts oben im Video ausgewählt werden [☰].
Was fliegt, wächst und krabbelt da?
Zahlreiche Lebensformen sind auf die Strukturenvielfalt und die Besonderheiten der Biotopbäume angewiesen. Darunter sind besonders viele Moose, Flechten und Pilze aber auch Vögel, Säugetiere und Insekten.
Vögel und Säugetiere sind vielfach auf die spezifischen Habitateigenschaften von Biotopbäumen angewiesen. So bieten efeuüberwachsene Bäume wertvolle Versteckmöglichkeiten für zahlreiche Singvögel, besonders im Winter. Horstbäume werden von Mäusebussard, Habicht, Sperber und Waldohreule über Jahre genutzt. Alte Bäume mir Rinden- und Stammverletzungen sind für Spechte interessant, ebenso Bäume mit austretendem Saft, an denen beispielsweise der in Bergwäldern vorkommende Dreizehenspecht seine Nahrung findet. Zudem nutzen Fledermäuse Höhlen, Rindentaschen und Baumfusshöhlen als Tagrastplatz. Biotopbäume sind für Vögel auch als Nahrungsquelle von grosser Bedeutung: Nirgends ist die Insektenviefalt höher als an den dicken und strukturreichen Biotopbäumen.
Die grosse Bedeutung der Biotopbäume liegt vor allem in ihrer Eigenschaft als Standort für Flechten, Moose und Pilze. Rund 5000 Grosspilzarten leben in der Schweiz, davon sind rund ein Drittel an Bäumen zu finden. Als besonders schützenswerte Baumpilzarten gelten etwa der Lärchenporling und der Fichtenfeuerschwamm. Mittlerweile wieder erholt haben sich die Bestände des eindrücklichen Zunderschwammes, einem Konsolenpilz, der vor der Erfindung des Streichholzes zum Feuermachen verwendet wurde. Viele Baumpilzarten sind als sogenannte Saprophyten für die Zersetzung von organischem Material unersetzlich, erst durch den Pilzwuchs wird das Holz für Insekten geniessbar.
Auch Flechten und Moose finden sich zahlreich auf Biotopbäumen. Neben Totholz sind vor allem die alten und dicken Bäume mit Habitattradition entscheidend für das Gedeihen seltener Flechtenarten. So gibt es Flechten, die auschliesslich an einigen wenigen Bäumen vorkommen, wie zum Beispiel die Engelshaarflechte, von der nur noch vier Standorte in der Schweiz bekannt sind. Andere Flechten, wie die Echte Lungenflechte, sind ausgesprochene Altbaum-Spezialisten.
Käfer aus der Familie der Bock- und Prachtkäfer wie der seltene Wendekreis-Widderbock sind auf Baumsaft angewiesen und kommen aufgrund ihrer geringen Mobilität ausschliesslich in der Umgebung von Saftbäumen vor. Auch der imposante Hirschkäfer ist auf Saftfluss, insbesondere von Eichen, zur Nahrungsaufnahme angewiesen. Andere Käferarten bevorzugen die besonnten und trockenen Lebensräume von Kronentotholz und Rindentaschen. Darunter auch der Alpenbock oder der gefährdete Mattschwarze Schnellkäfer. Rosenkäferarten wiederum bevorzugen den Mulm in Stammfusshöhlen, Specht- oder Asthöhlen als Lebensraum. Der hochgefährdete Eremit verbringt seine ganze Lebensdauer am gleichen Mulmstandort. Eine Eremitenpopulation besiedelt den gleichen Biotopbaum über hunderte Jahre hinweg.
Die knapp daumengrosse Rauhautfledermaus versteckt sich tagsüber in Rindentaschen und ausgefaulten Baumhöhlen. Foto: Mnolf, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Alpenbock: Seine Larven benötigen für ihre Entwicklung über mehrere Jahre abgestorbenes, besonntes Holz. Foto: Beat Wermelinger (WSL)
Neben verschiedenen Käferarten finden aber auch andere Insekten auf Biotopbäumen ideale Bedingungen. Milben, Fliegen und Wespenarten sowie Spinnen nutzen das Mikroklima von Rindentaschen und Stammverletzungen. So sind zum Beispiel die Kleine Braune Waldameise, Graswespen und Wildbienen vorwiegend auf abgestorbenen Teilen von Biotopbäumen zu finden, während die gefährdete Blaue Holzbiene besonntes Kronentotholz für ihre Brutröhren bevorzugt. Waldschmetterlinge wie der Kleine und der Grosse Eisvogel oder das Waldbrettspiel sind hingegen auf das Vorkommen von Weich-hölzern wie Salweide und Zitterpappel (Espe) angewiesen.
Konsequenzen für die Waldbewirtschaftung
Nachhaltigkeit im Wald wird heute noch oft primär in Bezug auf die Holznutzung definiert und die Nachhaltigkeit bezüglich Biodiversität meistens auf einen standortgerechten Baumbestand reduziert. Ein effektiv nachhaltig wirtschaftender Förster sollte aber beides im Auge haben: den Elitebaum, der das Geld über seine Holzqualität einbringt und den Biotopbaum, der ein wichtiges Element für die Biodiversität im Wald ist. Das bedeutet, dass bereits bei der ersten Durchforstung das Augenmerk auf mögliche Biotopbäume gerichtet werden muss.
Da eine grosse Artenvielfalt auch zu stabileren Waldbeständen führt, ist deren Erhaltung und Förderung durchaus im ökonomischen Interesse der Waldbesitzer und Forstdienste. Waldbestände mit grosser Artenvielfalt dürften auch bezüglich dem Klimawandel resilienter sein. Und abgesehen davon: Biotopbäume sind dank ihrer floristischen und faunistischen Besonderheiten ungemein spannend. Lassen Sie sich in ihre Welt entführen.