Auf der Erde wird es wärmer. In den letzten hundert Jahren stiegen die Durchschnittstemperaturen weltweit um rund 0,6 °C an. Auch in den Gebirgen ist der Klimawandel spürbar: Gletscher schmelzen, Permafrost taut auf, und die Schneebedeckung der mittleren Lagen nimmt ab. Wie wirken sich die steigenden Temperaturen auf unsere belebte Umwelt aus?

Witterung während Vegetationsperiode entscheidend

Eine besondere ökologische und landschaftsprägende Grenze in Hochgebirgen ist die Wald- bzw. die Baumgrenze. Die "Waldgrenze" ist jene Linie, die entlang des oberen Randes eines geschlossenen Waldes gezogen werden kann, während die "Baumgrenze" die höchstgelegenen, aufrecht wachsenden Baumindividuen umfasst.

Warum aber verschwinden Bäume mit zunehmender Höhe? Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass tiefe Wintertemperaturen oder extreme Frostereignisse den Bäumen mehr schaden als den niedrig wachsenden Pflanzen. Dies ist aber nicht der Fall, denn Bäume vermögen sich im Winter an Temperaturen bis unter –60 °C anzupassen, indem sie Zucker und andere Schutzstoffe einlagern und ihre Gewebezellen umbauen.

Temperaturmessungen an der Baumgrenze rund um den Globus zeigen vielmehr, dass hauptsächlich die zu kühle Witterung während der Vegetationsperiode die Höhenlage der Baumgrenze bestimmt. Im Wurzelraum muss mindestens eine Temperatur von 5 bis 7 °C herrschen, damit für das Wachstum wichtige Stoffwechselprozesse ablaufen. Ist die Vegetationsperiode zu kurz oder zu kalt, können Bäume nicht genügend Energie in die Ausbildung eines aufrechten Stammes investieren. An der Baumgrenze stehen sich Bäume aber auch selbst im Weg: Durch Beschattung kühlen sie ihren eigenen Wurzelraum aus, weswegen sie an Konkurrenzkraft gegenüber niedrig wachsenden Pflanzen verlieren.

Neben der Sommertemperatur wird die Höhe der Waldgrenze auf der lokalen Ebene von weiteren Faktoren beeinflusst: Schneebewegungen, Frostereignisse im Frühsommer, Wind, Schneepilze, Trockenheit und Konkurrenz durch Krautvegetation. Solche Einwirkungen können kleinräumig von grosser Bedeutung sein. Sie tragen dazu bei, dass die Waldgrenze aus der Nähe gesehen selten eine gerade Linie ist. Aus Distanz verwischen jedoch solche Unterschiede, und die Waldgrenze nähert sich einer temperaturbedingten Höhenlinie an.

Menschengemachte Waldgrenzen in den Alpen

Die für Bäume kritischen Temperaturverhältnisse während der Vegetationsperiode - und damit auch die Lage der Baumgrenze - befindet sich weltweit je nach Klimaregion in unterschiedlicher Höhenlage: von wenigen 100 m in subpolaren Regionen bis zu über 4000 m - maximal 4900 m - in tropischen Hochgebirgen. Auch in den Alpen ist die Höhe der Waldgrenze unterschiedlich. Am höchsten liegt sie mit 2500 m in den zentralalpinen Tälern des Wallis und des Engadins, wo die Einstrahlung und das Verhältnis zwischen erwärmtem Boden und umgebender Luft am grössten sind. Auf den ausgesetzten Gipfeln der Voralpen hingegen erhalten die Bäume meist bereits auf 1800 m zu wenig Sommerwärme.

Die enge Verknüpfung von Temperatur und Baumwuchs lässt einen Anstieg der Waldgrenze bei einem sich erwärmenden Klima vermuten. Allerdings ist der Wald ein eher träges System. Es dauert Jahrzehnte, bis er sich in vormals offenes Gelände ausbreitet. Die Waldgrenze hinkt daher dem aktuellen Klima hinterher. Im Alpenraum ist die Waldgrenze vom Menschen seit Jahrhunderten stark beeinflusst. Durch land- und forstwirtschaftliche Nutzungen wurde sie oft weit unter ihre natürliche Position gedrückt.

Im Zuge von Extensivierungen der Landwirtschaft dehnen sich die Wälder nun wieder aus, und die Waldgrenze nähert sich erneut ihrer natürlichen Lage an. Allerdings wissen wir wenig über natürliche Schwankungen der Waldgrenze in den Alpen. Holzfunde bei zurückschmelzenden Gletschern weisen jedoch darauf hin, dass die Waldgrenze früher einmal über der heutigen lag.

Steigende Waldgrenzen im menschenleeren Ural

Im Gegensatz zu den Alpen, wo ein klimabedingter Anstieg der Waldgrenze von einer Rückeroberung natürlicher Wuchsräume nur schwierig zu unterscheiden ist, wird die Waldgrenze im 2000 km langen russischen Uralgebirge nicht von Menschen beeinflusst (Wissenschaftler der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und der ETH Zürich untersuchen gemeinsam mit russischen und deutschen Kollegen die Verschiebung der Waldgrenze im südlichen und polaren Ural). Im südlichen Teil des Urals reicht die Waldgrenze fast bis zu den obersten Berggipfeln, Fichten wachsen hier bis in eine Höhe von 1300 m. Im polaren Ural hingegen bilden Lärchen die Waldgrenze. Hier liegt sie lediglich auf einer Höhe von 300 m, darüber erstrecken sich weiträumig Tundra und Felswüsten.

Von einigen dieser Bergregionen haben russische Forscher Fotografien des beginnenden 20. Jahrhunderts gefunden. Vergleiche mit diesen historischen Aufnahmen zeigen, dass die heutige Waldgrenze rund 60 bis 80 m höher liegt, was an den flach geneigten Hängen einer horizontalen Strecke von 500 bis 900 m entspricht. Da in diesen einsamen Gebieten menschliche Beeinflussung ausgeschlossen werden kann, führen Wissenschafter diesen Anstieg auf den Klimawandel zurück. Denn im polaren und südlichen Ural haben in den letzten 150 Jahren die durchschnittlichen Jahrestemperaturen um rund 1,5 °C zugenommen, und die Vegetationsperiode ist um etwa ein bis zwei Wochen länger geworden.

Seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts fotografieren russische Ökologen regelmässig markante Punkte an der Waldgrenze des südlichen und des polaren Urals. Zudem kartieren sie auf Millimeterpapier die Lage der Waldgrenze und die Verbreitung verschiedener Waldtypen. Auch diese Aufnahmen belegen: Die Waldgrenze verschiebt sich nach oben. Wo es vor 40 Jahren noch offene Tundra gab, kommen heute junge Wälder auf. Und wo vor ein paar Jahrzehnten nur einzelne Baumindividuen überlebten, finden sich heute geschlossene Wäldchen.

Fossile Wälder oberhalb der Waldgrenze

Bei seinen langen Wanderungen in der Nähe des Polarkreises stiess der heute 72jährige Professor Stepan Shijatov auf besondere Zeugen vergangener Zeiten und Klimaverhältnisse. Oberhalb der höchstgelegenen Bäume fand er Überbleibsel fossiler Wälder, mehrere Meter hohe abgestorbene Resten von Lärchen. Mithilfe der Jahrringe konnte das Alter des ausgestorbenen Waldes bestimmt werden: Er lebte vor rund 1000 Jahren.

Das zeigt, dass damals im polaren Ural ein ähnlich warmes Klima herrschte wie heute. Unter dem kälter werdenden Klima der kleinen Eiszeit im 13. und 14. Jahrhundert starben die Bäume ab. Die toten Lärchen aber blieben wegen des hohen Harzgehalts des Holzes und der besonderen Klimaverhältnisse – kurze, trockene Sommer und eisige Winter – erhalten. Heute findet man zwischen den fossilen Holzresten wieder erste junge Bäume und Lärchenkeimlinge. Unter dem sich erwärmenden Klima erobert sich der Wald das verlorene Terrain zurück.

(TR)